Auf der Suche nach dem Raum im Kosmos
des Digitalen
Tuvalu wird digital.
Der kleine Inselstaat im Südpazifik hat angekündigt, seine immateriellen Kulturgüter vor der Vergänglichkeit in eine virtuelle Welt hinüberzuretten, bevor die 26 km² große Insel von dem steigenden Meereswasserspiegel unkenntlich gemacht wird. Damit wäre Tuvalu die erste digitale Nation der Welt und gibt einen Anstoß für andere Inselstaaten, der Begrenzung realer räumlicher Möglichkeiten etwas entgegenzusetzen.
Das Virtuelle steht für die Erweiterung des Raumes wie kein anderes Phänomen des 21. Jahrhunderts. In allen Ausprägungen vermittelt uns die digitale Welt Räume, in die wir ein- und austreten, ohne uns dabei vom Schreibtisch zu bewegen. Das Konzept des Raumes aus den Sozial- und Geisteswissenschaften nimmt dabei in der heutigen Form die Gestalt an, die damals eine reine Überlegung war. Ein abstraktes Modell, das sich an den realen Bedingungen des Raumes sowie auch seinen Interaktionsmustern orientierte. In der Produktion von Räumen (The production of space, Henri de Léfèbvre) wird der Raum erst durch seine Nutzungsmuster und Zuschreibungen zu einem sichtbaren Rahmen, der Interaktionen und Relationen zulässt.
Wenn die Bedingungen einen real nutzbaren Raum erschweren oder unmöglich machen, beginnt die Suche nach einem alternativen Modell. Museen mit ihren oft ehrwürdigen, jahrhundertealten Gebäuden mussten sich angesichts pandemiebedingter Kontaktverbote, Energiekosten und einer sich zunehmend wandelnden Klientel die Frage stellen, welche zukünftigen Nutzungsmodelle sie dem realen Raum unterordnen wollen. Ein Großteil der Museen der westlichen Welt war spätestens zu Covid-Zeiten für digitale Ausstellungen aufgestellt. Wenngleich die kataloghafte Darstellung der Exponate teilweise den Charme von Bilddatenbanken wiedergaben, existierte ein Ort der musealen Sichtbarkeit in sauber kuratierter Fasson. Nur eben digital. Denn trotz aller Lust sich im Gewand neuer Technologien zu zeigen, hemmt der Anspruch an das, was den Besuch im Museum zu einem nicht geringen Teil ausmacht: das Eintauchen in die Welt der Kunst, die Hingabe der Betrachtung, der Austausch ohne Worte mit anderen Kunstinteressierten.
Neben zahlreichen anderen großen Kunsthäusern hat das Mori-Art Museum in Tokio beschlossen, das virtuelle Erleben auf eine neue Realitätsebene zu heben. Mithilfe einer auf Google Street-View beruhenden Technologie, die eine Gruppe begeisterter Google-Mitarbeiter für die Kunst entwickelte, können Besucher in die Räume virtuell eintreten. Sie erleben die Ausstellung nah und mittelbar, ohne dafür eine weite Reise anzutreten oder unbequeme Bedingungen wie das in-der-Schlange-stehen in Kauf nehmen zu müssen.
Es sind jedoch nicht nur die realen Räume der Kunst, die Museen heute vor Herausforderungen stellen. Das Bildnis des klassischen Museumsbesuchers hat in den letzten Jahren einen weiteren Riss bekommen. Während es vormals die Vertiefung und die stille Betrachtung war, die in den Räumen vorherrschte, ist der Wunsch nach dem gemeinsamen Eintauchen in ein lebendiges Erleben von Kunst eine neue Form des Kulturkonsums geworden. Und wer jemals in den 1980er Jahren das Centre de George Pompidou in Paris besucht hat, dessen Vorplatz stets von Artisten und Straßenkünstlern jeglichen Genres besetzt war, dem wurde schnell klar, dass Kunst auch stattfinden kann, im erlebten Moment der Gegenwart.
‚Machine Hallucinations‘ nennt Refik Anadol seine Werke, die aus KI-Daten bestehen, die sich in zufälligen immer neuen riesigen Bildformatierungen über den Besucher ergießen. Es ist eine gewollte Immersion, die den Betrachter in einen Zustand versetzt.
Man kann die Ausstellungen getrost Lichtershows nennen, die einen staunend und fasziniert in ihr schönes Chaos hineinziehen. In dieser Inszenierung wird der Raum zu einem nebensächlichen Behälter und obgleich jeder einzelne einen eigenen Zugang hat, wird die Bildershow zu einem gemeinsamen, meist auch klanglich unterlegten Real-Erleben. Ähnlich immersiv arbeitet das französische Projektunternehmen Culturespaces mit Lichtshows, die den virtuellen Zugang in Van Goghs ‚Sonnenblumen‘ oder Monets‘ Garten monumental ermöglichen.
Der Erfolg dieser Begegnung realer Gegenständlichkeit der Kunst mit KI-Wissenschaft ist ihrer Kompatibilität geschuldet. Es ist eine Ergänzung, wenn man so will eine räumliche Erweiterung und der gelungene Versuch dem Betrachter das Erleben, ja Konsumieren von Kunst leicht zu machen.
Stummes Ausharren vor Bildern, die von anderen Besuchern verstellt werden und an denen man ohnehin kaum etwas im Detail erkennen kann fällt weg.
Stattdessen überlässt man sich im Kollektiv dem Sog des Spektakels.
Räume – und dabei sind wir wieder bei Léfèbvre, werden produziert, vielmehr durch unsere eigene Imagination als durch das, wofür sie eigentlich vorgeschrieben sind.
Ohne Maschinen bleibt am Ende des Tages von van Goghs ‚Sonnenblumen‘ nurmehr das gemalte Original übrig.
Ein gleichsam unauffälliges wie leidenschaftliches Bild.