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Einer, der auszog

Tagebuchauszug
„Amerika ist schon immer das Land gewesen, welches sich die meisten Auswanderer, Glückssucher, Abenteurer und sonstige Individuen als Ziel erkoren, um hier ihren Wirkungskreis zu suchen; sei es, um auf abenteuerliche Art und Weise sich mit dem Leben herumzuschlagen und es so zu bezwingen oder auch ein in gleichmäßigem, stetigem Lauf sich bewegendes Dasein versetzt zu werden.

Mir standen beide Wege offen. Bei mir lag es nicht, darüber zu entscheiden, auf welchem der beiden Rom am schnellsten zu erreichen war. Eine höhere, leitende Macht musste da eingreifen. Sie tat es wie wir später noch sehen werden. Vorerst ein Wort über den Beweggrund, der zu meinem Entschlusse führte; denn jede Sache von mehr oder weniger Bedeutung hat in einem Entschlusse seinen Ursprung und hängt die Ausführung nur von der persönlichen Energie und zuweilen auch von nebenlaufenden Umständen ab.
Unser liebes, armes, zerrissenes Vaterland ist heute außerstande die große Zahl seiner Kinder in befriedigender Weise, wie es wohl sein sollte durch den schweren Daseinskampf zu führen. Es hat den Krieg verloren, ist hinabgedrückt worden, man hat ihm Fesseln angelegt, die es nur langsam abzustreiten vermag; sein Wirtschaftsleben hat einen Schlag erlitten, von dem es sich mit Aufbietung aller Kräfte allgemach zu erhalten imstande ist; der politische Himmel war äußerst wetterwendisch und liess einen Sturm nach dem anderen über das Land dahinbrausen, Sonnenschein gehörte zu jenen Dingen, die man zu den Geist, und dann auch noch mit einem gewissen Teil Glück, am Firmament zu entdecken vermochte. Das alles ist nicht dazu geschaffen, einem jungen Menschen die Zukunft gerade rosig erscheinen zu lassen. Da immerhin auf der anderen Seite des Ozeans mit besseren Aussichten und allen Möglichkeiten gerechnet werden konnte, meine Eltern überdies ganz mit meinem Plane einverstanden waren, bekam mein Wunsch Gestalt und Form.
Meine Reise wurde beschlossene Sache.
Der 05. Juni sollte mich an Bord des Holländischen Dampfers „Oranje Nassau“ sehen, der mich der Heimat entführen und den fernen Gestaden Columbiens entgegentragen sollte.
J.C.F. PETERS, Juni, 1926

Das Handelsschiff „oranje nassau“ der niederländischen Seeflotte
Royal Netherlands Steamship Company (KNSM)
fuhr die sogenannte Karibik-Linie mit Gütern und Passagieren

Der erste Weltkrieg war vorbei, die Situation im Land gedrückt.
Zahlreiche junge Menschen suchten ihr Glück in der Ferne – Migration und Mut gehörten dabei wie jeher zusammen und verbanden sich mit dem Reiz des Abenteuers, dem Interesse an fernen Ländern, Kulturen, Sitten. Die Welt im Umbruch konnte nichts von dem beschönigen, was man zurückließ, sie konnte aber beflügeln und an neue Lebensufer führen. Junge Deutsche, die die Möglichkeit hatten, ergriffen diese zahlreich. Im Auftrag der evangelischen Kirche machten sie sich auf, um in exotischen Ländern missionarisch tätig zu werden oder im Auftrag deutscher Unternehmen neue Handelswege zu erschließen. Die Länder mit den begehrlichen Waren lagen in Übersee – es gab Kaffee, Kautschuk, Tee und Gewürze, die gehandelt werden konnten. Es lag dafür kein expliziter Bedarf im Heimatland vor, eher ein impliziter, – denn jeder Umbruch, der von einer kulturellen Bereicherung über Luxusgüter begleitet wird, schafft Vertrauen in die Zukunft, lenkt ab und stellt eine Nachfrage her, die damit ganz eng an das Konsumieren der Waren gebunden ist. Dass sich der eigene Konsum oft ungut mit der Produktion der Waren verband, zeigt die Kulturgeschichte des Zuckers, doch in moralische Bedenken hinein reichte das Handelsverständnis zu der Zeit noch nicht. Wovon man vielmehr ausging, basierte auf Annahmen, die den Handelspartner eher ungenau skizzierten, aber im besten Glauben an die eigene Lauterbarkeit anknüpften. Man ist vor Ort, Handelswege zu erschließen, beschaut, was zu holen ist und fragt danach, was es kostet. Es lockte der Jahrmarkt der Möglichkeiten.
Diese Form der Kooperationssuche war der Anbeginn einer Internationalisierung des Handels und lag zumeist in den Händen einzelner Jung-Entrepreneure, die über zahlreiche Fertigkeiten verfügen mussten, um den dazugehörigen Strapazen gewachsen zu sein. Diese mussten nicht nur körperlich fit sein, um mehrmonatige Tropengänge zu verkraften, sie mussten zudem auch die Anpassungsfähigkeit mitbringen, den wechselnden Anforderungen gerecht zu werden, an Widerständen wachsen, sich durchsetzen und idealerweise tragfähige Ergebnisse liefern. Das Erschließen der Sprache, der Gebräuche, der händlerischen Gewohnheiten, der Warenqualität und weiterer Eckdaten gehörten dazu. Insofern waren die zielgebundenen Überseereisen in gewisser Form kulturerkundende Reise. Kulturbeschau stellte einen Reizfaktor für viele junge Deutsche dar und waren nicht selten das Hauptmotiv neben Abenteuerlust und Veränderungswille. Man suchte nach jungen, gut gebildeten Menschen, die über eine schnelle Auffassung und rasche praktische Umsetzung verfügten, hartnäckig aber anpassungsfähig, zielstrebig aber in gebührender Höflichkeit die Interessen der heimischen Unternehmen wahrten. Einer dieser jungen Männer war Johann Conrad Friedrich Peters, Ältester von sechs Geschwistern einer norddeutschen Kaufmannsfamilie, die einem humanistisch-geprägten Leben gemäß vorrangig Gutes und Sinnvolles in der Erkundung der Welt sah.
Er und seine Brüder gehörten zu den strebsamen Schülern am Heider Gymnasium insbesondere in den altphilologischen Sprachen
Der Vater führte in seinem Geschäft Kolonialwaren, wie exotische Heiltees – Drogen aus aller Welt, Schokolade und Lakritze. Ganz abgesehen davon war es Conrad Friedrich selbst, der sich schon in jungen Jahren dem Studium der Sprachen hingab, wann immer möglich Globus und Atlas durchsuchte und in seiner neuen Aufgabe als angehender Überseekaufmann eine Bildungschance sah, die er unbedingt wahrnehmen wollte.
Bildung also war auch hier eines der Motive, die zwar nicht auf der Agenda genannt wurden, aber durchaus eine starke Anziehungskraft für einige besaß.
Denn hier wie überall gilt: Migration bildet im Idealfall …


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Digitalnation

Auf der Suche nach dem Raum im Kosmos
des Digitalen

Tuvalu wird digital.
Der kleine Inselstaat im Südpazifik hat angekündigt, seine immateriellen Kulturgüter vor der Vergänglichkeit in eine virtuelle Welt hinüberzuretten, bevor die 26 km² große Insel von dem steigenden Meereswasserspiegel unkenntlich gemacht wird. Damit wäre Tuvalu die erste digitale Nation der Welt und gibt einen Anstoß für andere Inselstaaten, der Begrenzung realer räumlicher Möglichkeiten etwas entgegenzusetzen.

Das Virtuelle steht für die Erweiterung des Raumes wie kein anderes Phänomen des 21. Jahrhunderts. In allen Ausprägungen vermittelt uns die digitale Welt Räume, in die wir ein- und austreten, ohne uns dabei vom Schreibtisch zu bewegen. Das Konzept des Raumes aus den Sozial- und Geisteswissenschaften nimmt dabei in der heutigen Form die Gestalt an, die damals eine reine Überlegung war. Ein abstraktes Modell, das sich an den realen Bedingungen des Raumes sowie auch seinen Interaktionsmustern orientierte. In der Produktion von Räumen (The production of space, Henri de Léfèbvre) wird der Raum erst durch seine Nutzungsmuster und Zuschreibungen zu einem sichtbaren Rahmen, der Interaktionen und Relationen zulässt.

Wenn die Bedingungen einen real nutzbaren Raum erschweren oder unmöglich machen, beginnt die Suche nach einem alternativen Modell. Museen mit ihren oft ehrwürdigen, jahrhundertealten Gebäuden mussten sich angesichts pandemiebedingter Kontaktverbote, Energiekosten und einer sich zunehmend wandelnden Klientel die Frage stellen, welche zukünftigen Nutzungsmodelle sie dem realen Raum unterordnen wollen. Ein Großteil der Museen der westlichen Welt war spätestens zu Covid-Zeiten für digitale Ausstellungen aufgestellt. Wenngleich die kataloghafte Darstellung der Exponate teilweise den Charme von Bilddatenbanken wiedergaben, existierte ein Ort der musealen Sichtbarkeit in sauber kuratierter Fasson. Nur eben digital. Denn trotz aller Lust sich im Gewand neuer Technologien zu zeigen, hemmt der Anspruch an das, was den Besuch im Museum zu einem nicht geringen Teil ausmacht: das Eintauchen in die Welt der Kunst, die Hingabe der Betrachtung, der Austausch ohne Worte mit anderen Kunstinteressierten.

Neben zahlreichen anderen großen Kunsthäusern hat das Mori-Art Museum in Tokio beschlossen, das virtuelle Erleben auf eine neue Realitätsebene zu heben. Mithilfe einer auf Google Street-View beruhenden Technologie, die eine Gruppe begeisterter Google-Mitarbeiter für die Kunst entwickelte, können Besucher in die Räume virtuell eintreten. Sie erleben die Ausstellung nah und mittelbar, ohne dafür eine weite Reise anzutreten oder unbequeme Bedingungen wie das in-der-Schlange-stehen in Kauf nehmen zu müssen.
Es sind jedoch nicht nur die realen Räume der Kunst, die Museen heute vor Herausforderungen stellen. Das Bildnis des klassischen Museumsbesuchers hat in den letzten Jahren einen weiteren Riss bekommen. Während es vormals die Vertiefung und die stille Betrachtung war, die in den Räumen vorherrschte, ist der Wunsch nach dem gemeinsamen Eintauchen in ein lebendiges Erleben von Kunst eine neue Form des Kulturkonsums geworden. Und wer jemals in den 1980er Jahren das Centre de George Pompidou in Paris besucht hat, dessen Vorplatz stets von Artisten und Straßenkünstlern jeglichen Genres besetzt war, dem wurde schnell klar, dass Kunst auch stattfinden kann, im erlebten Moment der Gegenwart.

‚Machine Hallucinations‘ nennt Refik Anadol seine Werke, die aus KI-Daten bestehen, die sich in zufälligen immer neuen riesigen Bildformatierungen über den Besucher ergießen. Es ist eine gewollte Immersion, die den Betrachter in einen Zustand versetzt.
Man kann die Ausstellungen getrost Lichtershows nennen, die einen staunend und fasziniert in ihr schönes Chaos hineinziehen. In dieser Inszenierung wird der Raum zu einem nebensächlichen Behälter und obgleich jeder einzelne einen eigenen Zugang hat, wird die Bildershow zu einem gemeinsamen, meist auch klanglich unterlegten Real-Erleben. Ähnlich immersiv arbeitet das französische Projektunternehmen Culturespaces mit Lichtshows, die den virtuellen Zugang in Van Goghs ‚Sonnenblumen‘ oder Monets‘ Garten monumental ermöglichen.
Der Erfolg dieser Begegnung realer Gegenständlichkeit der Kunst mit KI-Wissenschaft ist ihrer Kompatibilität geschuldet. Es ist eine Ergänzung, wenn man so will eine räumliche Erweiterung und der gelungene Versuch dem Betrachter das Erleben, ja Konsumieren von Kunst leicht zu machen.
Stummes Ausharren vor Bildern, die von anderen Besuchern verstellt werden und an denen man ohnehin kaum etwas im Detail erkennen kann fällt weg.
Stattdessen überlässt man sich im Kollektiv dem Sog des Spektakels.
Räume – und dabei sind wir wieder bei Léfèbvre, werden produziert, vielmehr durch unsere eigene Imagination als durch das, wofür sie eigentlich vorgeschrieben sind.
Ohne Maschinen bleibt am Ende des Tages von van Goghs ‚Sonnenblumen‘ nurmehr das gemalte Original übrig.

Ein gleichsam unauffälliges wie leidenschaftliches Bild.

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  • Anthropologie der Städte
  • Medizinanthropologie
  • Politische Anthropologie
  • Visuelle Anthropologie